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Ist die Natur natürlich?

Blogbeitrag zur Collage «L’Homme Machine»

von Daniel Strassberg

Unter dem Titel L’Homme Machine würde man vielleicht ein barockes Cembalokonzert erwarten, das wie von einer Nähmaschine gespielt klingt oder die Musik eines Theremins, aber bestimmt nicht die Musik von Maurice Ravel. Weniger mechanisch kann Musik nicht klingen; selbst der äusserst repetitive Boléro erweckt nie die Assoziation eines Uhrwerks, sondern evoziert vielmehr intensive Naturbilder, anschwellende Wellen vielleicht, einen aufkommenden Sturm oder sexuelles Begehren, das zum Höhepunkt drängt. Das Spiel von Tanja Hotz erinnerte denn auch eher an einen Tornado als an das Fliessband, das auf dem Programmheft abgebildet war.

Die Verbindung von Ravel und La Mettrie (und Diderot) funktioniert dennoch überraschend gut, weil die Musik den Text nicht illustriert, sondern vielmehr konterkariert. Es prallen an diesem Abend drei radikal unterschiedliche Naturbegriffe aufeinander: Unsere gefährdete und zu schützende Natur, die wilde Natur des Impressionismus und die maschinelle des 18. Jahrhunderts.

In unserem Verständnis sind Natur und Maschine Gegenspieler, wobei die Natur den Part des good guys und die Maschine den Part des bad guys übernimmt. Eine Kritik befand einmal Igor Pogorelichs Klavierspiel für zu mechanisch, und meinte damit bestimmt nichts Gutes: Ein technisch zwar perfektes, aber seelenloses Spiel. Jemand spiele natürlich, würde das Gegenteil davon bedeuten: Sie spielt vielleicht einmal eine falsche Note, aber die Emotionen stimmen und sie spielt ohne Firlefanz.

Der Antagonismus von Natur und Maschine wurde wahrscheinlich von Hegel, Hölderlin und Schelling erfunden, als sie gemeinsam in Tübingen zur Schule gingen, und sie wurde in der Romantik noch zugespitzt. Vorher war alles anders:  Die Maschine, insbesondere das Uhrwerk, galt seit Mitte des 17. Jahrhundert als perfektes Modell der Natur, entsprechend war Gott ein Uhrmacher.

Übersetzt besagt die Uhrenmetapher, dass die Natur denselben mechanischen Gesetzen gehorcht wie die Uhr, und deshalb durch die Bewegungsgesetze vollständig erklärt werden kann. Häufig vergisst man aber, dass diese physikalistischen Aussagen keine wissenschaftliche, sondern eine normative Zielrichtung hatten. Es ging nicht darum, die Natur und ihre Gesetze besser zu verstehen – das war durch die Bewegungsgesetze bereits erledigt – sondern darum, aus dem Buch der Natur das richtige Verhalten und die richtigen politischen Prinzipien abzuleiten.  Die Vorstellung, die Menschen müssten der Natur Sorge tragen, war dem 18. Jahrhundert völlig fremd, im Gegenteil, die Natur muss den Menschen Sorge tragen, indem sie sie über das richtige Leben orientiert.

Die Naturmetaphorik bestimmt nun, wie dieses richtige Leben aussieht: Wenn die Natur ein Uhrwerk ist, muss es auch einen Schöpfer geben, der sie gebaut hat und nun steuert. Und so, wie die Schöpfung einen Schöpfer als Steuerungsmodul benötigt, braucht der Staat einen König und das Individuum einen Geist. Die Uhrenmetapher begründet also, wie Otto Mayr gezeigt hat, ein hierarchisch-autoritäres Weltbild.

Wenn Denis Diderot nun an die Stelle der Maschine den Organismus als Grundprinzip der Natur setzt, so verfolgt er damit politische Absichten. Ein lebendiger Organismus wie ein Bienenschwarm organisiert sich mittels Rückkoppelungsschlaufen selbst, behauptet er im Le Rêve de d’Alembert. Die einzelnen Bienen können untereinander Informationen austauschen, und auf diese spezifisch reagieren.  Ein Bienenschwarm braucht deshalb keine zentrale Steuerung. Ergo, so Diderots untergründige Botschaft, braucht es auch keinen Gott und keinen König. Kein Wunder, dass ihn der König in Vincennes einsperren liess.

Noch einmal anders lautet La Mettries politische Botschaft. Wegen seines Buches L’homme machine aus dem Jahr 1748 biss sich die Nachwelt an der Maschinenmetapher fest und stilisierte ihn zum Höhepunkt des mechanistischen Denkens hoch. Selbst Marx hielt La Mettrie noch für einen Anhänger der Physik Descartes. Doch selten hat ein Buchtitel dermassen in die Irre geführt; es ist, als behaupte man, ein Buch über den Zitronenfalter handle von einem, der Zitronen faltet. La Mettrie ist zwar Materialist, aber er ist beileibe kein Mechanist: Wie der menschliche Körper konstruiert ist, interessierte ihn ebenso wenig wie die Naturgesetze. Er wollte lediglich «beweisen», dass alle Naturvorgänge materialistisch erklärbar und deshalb determiniert sind. Daraus leitete er, wie andere französische Materialisten, einen paradoxen Freiheitsbegriff ab: Weil die Menschen ohnehin durch die Natur determiniert sind und sie keine immaterielle Seele besitzen, haben Gesetze, die das individuelle Verhalten regulieren möchten, keinen Sinn. Erstens wäre das gegen die Natur und zweitens setzt sich am Ende die Natur immer durch.

Die Überblendung der Klimaproblematik, von Ravels postromantischem Naturverständnis und der Maschinenmetapher erzeugt eine produktive Spannung, die helfen könnte, politisch schädliche romantische Überreste auszutreiben: Für La Mettrie und Diderot war die Natur weder gut noch böse. Sie war einfach.

Daniel Strassberg, geboren 1954, ist Psychiater und Psychoanalytiker in eigener Praxis und promovierter Philosoph. Er hat verschiedentlich zu Themen im Grenzgebiet von Philosophie und Psychoanalyse publiziert. Er unterrichtet am Psychoanalytischen Seminar Zürich, an der ETH und an den Universitäten Zürich, Luzern und Tel Aviv. Sein Buch «‹Das poietische Subjekt›. Giambattista Vicos Wissenschaft vom Singulären» ist 2007 erschienen, «‹Der Wahnsinn der Philosophie›. Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze» 2014.