«Vollständige Befreiung von allen Formen …» – Die Wiener Schule von Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern als Laboratorium der frühen Moderne
Blogbeitrag zur Collage «…heftige bewegungen der seele»
von Daniel Ender
Der «Lärm der Stadt» wurde «unhörbar … vor dem Dröhnen seiner Worte» – so beschrieb Alban Berg am Ende des Jahres 1910 gegenüber seinem Freund und Kollegen Anton Webern seine Gespräche mit dem gemeinsamen Lehrer Arnold Schönberg. Etwa sieben Jahre lang hatten die beiden – neben vielen anderen – bei ihm Kompositionsunterricht erhalten und jene tiefgreifenden Umwälzungen mitvollzogen, die von den einen als vollkommener Neuanfang empfunden wurden, den anderen hingegen als das Ende der Musik galten. Zunächst war es die erst allmähliche, schliesslich sprunghaft vollzogene Loslösung von der Jahrhunderte alten Orientierung am grundtonbezogenen System der Dur- und Moll-Tonarten, mehr als ein Jahrzehnt später die Erfindung der Dodekaphonie (Zwölftontechnik). Dabei werden die zwölf chromatischen Töne in einer festgelegten Reihenfolge (Zwölftonreihe) organisiert, wodurch ein traditionelles tonales Zentrum bewusst vermieden wird. Berg und Webern folgten ihrem Lehrer zwar hinsichtlich der Neuerungen, fanden dabei jedoch jeweils individuelle Lösungen und gingen auch bei ihren «zwölftönigen» Werken bemerkenswert eigenständige Wege.
Über Schönbergs Werke aus der Zeit der frühen «Atonalität» – ursprünglich allerdings ein Kampfbegriff der Fortschrittsfeinde und von den modernen Komponisten abgelehnt – schrieb Webern 1912, es werde hier «mit aller überlieferter Architektonik gebrochen; immer folgt Neues von jähster Veränderung des Ausdrucks: … ein ununterbrochener Wechsel nie gehörter Klänge.» Schönberg selbst fasste 1909 seine Absichten in einem Brief an den Klangvisionär Ferruccio Busoni markant zusammen: «Vollständige Befreiung von allen Formen. von allen Symbolen des Zusammenhangs und der Logik … Weg vom Pathos! Weg von den 24pfündigen Dauermusiken; von den gebauten und konstruierten Türmen, Felsen und sonstigen gigantischem Kram. … nicht bauen, sondern ‘ausdrücken’!!»
In Wien, der Metropole der Habsburgermonarchie, ereigneten sich rund um die Jahrhundertwende in allen sozialen und kulturellen Bereichen eruptive Umbrüche. Hier kamen Menschen aus allen Teilen des Vielvölkerstaats zusammen, in dem neben Deutsch acht weitere Sprachen offiziell anerkannt waren: Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch (Ostslawisch, heute vor allem Ukrainisch), Slowenisch, Kroatisch/Serbokroatisch, Italienisch, Rumänisch sowie Magyarisch (Ungarisch). Im heutigen Stadtgebiet lebten im Jahr 1870 rund 900.000 Menschen – bis 1890 wuchs ihre Zahl auf 1,4 Millionen und erreichte 1910 2,1 Millionen. Trotz intensiver Bautätigkeit nahmen mit dem Bevölkerungswachstum sowohl die Wohnungsnot als auch die soziale Ungleichheit zu. Dies führte zu zunehmenden gesellschaftlichen, ethnischen und politischen Spannungen, befeuert von nationalistischen Tendenzen. Als weiteres Fanal künftiger Katastrophen mischte sich in diese explosive Gemengelage ein struktureller Antisemitismus, der vom Wiener Bürgermeister Karl Lueger persönlich vorangetrieben wurde.
Zu einem Mittelpunkt zahlreicher Konflikte und Ambivalenzen wurde die kulturelle Auseinandersetzung zwischen den Polen Tradition und Moderne, Ornament und Reduktion, Subjektivität und Dekonstruktion. Während sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine Endzeitstimmung verbreitete, erblühte Wien als Zentrum intellektueller und künstlerischer Innovationen, als Laboratorium der Moderne und gleichzeitig als Brutstätte antimoderner Kräfte. Gemeinsam mit schubartigen Neuerungen in Technik und Medizin, Psychoanalyse, Naturwissenschaft, Bildender Kunst, Design und Architektur, Philosophie und Literatur wurden schwindende Gewissheiten und Auflösungserscheinungen artikuliert – bis hin zur grundlegenden Basis der menschlichen Sprache. In seinem Chandos-Brief beschrieb der wie Schönberg im Jahr 1874 geborene Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal 1902 den Verlust dichterischer Formen ebenso wie das Abhandenkommen der Grundelemente seiner eigenen Kunst: «… die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäss bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.»
Solche Krisen und Neuanfänge konzentrierten sich zwar in Wien in unerhörter Dichte, waren jedoch keineswegs auf diese Stadt beschränkt. Vielmehr zeigten sich vergleichbare Tendenzen im Norden Europas bei Henrik Ibsen und August Strindberg oder im Osten bei Anton Tschechow. Schönberg fand 1911 in Wassily Kandinsky einen Gleichgesinnten, der die Künste – wie er dem Komponisten am Beginn dieses Jahres schrieb – auf einem neuen «antilogischen» Weg sah: «Und dieser Weg ist der der Dissonanzen in der Kunst, also auch in der Malerei ebenso, wie in der Musik. Und die ,heutige‘ malerische und musikalische Dissonanz ist nichts als die Konsonanz von ,morgen‘.» Als unmittelbare Reaktion auf Schönbergs Musik malte Kandinsky Impression III (Konzert), andere Bilder nannte er Improvisationen, Kompositionen oder Klänge und sprach vom «Klang» der Farben. Schönberg seinerseits betätigte sich in den Jahren seiner kompositorischen Neuorientierung um 1910 intensiv als Maler und war als solcher auch in der ersten von Kandinsky und Franz Marc organisierten Münchner Ausstellung «Der Blaue Reiter» 1911 mit zwei Gemälden vertreten. Wie Kandinsky sprach Schönberg von Kunst als Ausdruck seelischer Vorgänge und von «innerer Notwendigkeit» künstlerischer Gestaltung, zugleich empfand er Zwänge wie Zweifel – einen Zustand, den der Maler in einem Beitrag über die Bilder des Komponisten, die dieser selbst als technisch mangelhaft ansah, geradezu als allgemeingültiges Qualitätsmerkmal beschrieb: «Schönberg täuscht sich – er ist nicht mit seiner Maltechnik unzufrieden, sondern mit dem inneren Wunsch seiner Seele, von der er mehr verlangt, als sie heute geben kann. Diese Unzufriedenheit möchte ich jedem Künstler wünschen – für alle Zeiten.»
Daniel Ender studierte Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Sprachwissenschaft sowie Instrumental-(Gesangs-)pädagogik in Wien. Er promovierte mit einer Arbeit über Beat Furrer und war 2001–10 Redaktioneller Mitarbeiter, 2011–12 Chefredakteur, 2013–14 Herausgeber der «Österreichischen Musikzeitschrift». Seit 2000 war er regelmäßig journalistisch tätig, etwa als ständiger freier Mitarbeiter der Tageszeitung «Der Standard» sowie der «Neuen Zürcher Zeitung». Seit 2010 lehrt er an verschiedenen Universitäten, etwa 2013–15 als Senior Scientist an der Universität Klagenfurt. 2015 wurde er zum Leiter der Abteilung Wissenschaft und Kommunikation, 2018 zum Generalsekretär der Alban Berg Stiftung (Wien) bestellt.
Neuere Buchveröffentlichungen: «Les métamorphoses du son. La musique de Beat Furrer», traduit par Catherine Fourcassié, Genève 2019 (dt. Fassung: «Metamorphosen des Klanges. Studien zum kompositorischen Werk von Beat Furrer», Kassel 2014); «Zuhause bei Helene und Alban Berg. Eine Bilddokumentation», Wien 2020; Georg Friedrich Haas, «Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben», hg. von Daniel Ender und Oliver Rathkolb, Wien 2022; «Alban Berg im Bild. Fotografien und Darstellungen 1887–1935», Wien 2023.