« ... und flüchten aus der Welt.» - Arnold Schönbergs Sendungsbewusstsein

 
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Blogbeitrag zur Collage «Der Augenblick der Befreiung»

von Thomas Meyer

Kunst komme nicht von Können, sondern von Müssen, schrieb Arnold Schönberg 1910 in einem Aufsatz. Möglicherweise war das Reflex auf die drohende Beliebigkeit und den Verdacht, ein Künstler könne ja in der freigelassenen Tonalität, der Atonalität, machen, was er wolle. Orientierung tat not, wo die formbildenden Tendenzen der Tonalität fehlten, die Schönberg später beschrieb. Man hing im leeren Raum. Und während Strawinsky, dem vor der «unendlichen Zahl der sich mir bietenden Möglichkeiten» graute, sich nach 1920 dem Neoklassizismus zuwandte, «erfand» Schönberg seine «Methode  der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen»: die Zwölftontechnik. Vor allem über die Mittel des Kontrapunkts wollten beide dadurch Fasslichkeit und Verbindlichkeit herstellen.

Von Müssen und schierer Notwendigkeit ist in diesem Zusammenhang immer wieder die Rede. Sendungsbewusstsein entsprach dem Zeitgeist. Die Schönberg-Schule war beileibe nicht die einzige Gruppe, die sich einem Programm verschrieb. Neben den sich revolutionär gebärdenden Manifesten der Futuristen und Surrealisten etwa wirkt sie sogar recht zurückhaltend. Aber sie verstand sich als «notwendig». «Die Zeit war einfach reif für das Verschwinden der Tonalität.», stellte Schönberg-Schüler Anton Webern fest. Man musste da zunächst mit einer gewissen Getriebenheit und Unbedingtheit «Hemmungen der fürchterlichsten Art» (Webern) überwinden. Jemand musste es tun, sagte Schönberg später. Es habe sich halt kein anderer dafür hergegeben.

Dahinter steht ein Jahrhundert überlebensgrosser, schicksalsgebeutelter Künstler-Egos, musikalisch geprägt von Beethoven. «Muss es sein? – Es muss sein! Es muss sein!» hatte dieser zum Beispiel über das Finale seines Streichquartetts op. 135, seines letzten vollendeten Werks, notiert. Mag er das auch scherzhaft gemeint haben, so zeigt sich da doch der Künstler, der es dennoch tun muss, allen Widerständen, allem Leiden zum Trotz: der Künstler, der eine Aufgabe im Dienst der Humanität hat, eine historische Aufgabe zur Befreiung der Musik und der Menschen.

Daraus resultiert ein künstlerisches Sendungsbewusstsein mit einem Hang zur Selbstmythologisierung. Es trug die Musiker hinauf und fort, manchmal wie bei Schumann oder Mahler auch in die Tragödie. Die Biographie wurde – spätestens seit Mozarts frühem Tod – Teil dieser Sendung. Und wenn die Biographik im Schönberg-Kreis auch in den Hintergrund geriet und nur noch im Innern der Werke nachweisbar ist, so zeigt sich doch umso stärker die musikhistorische Verpflichtung. «Heute habe ich etwas entdeckt, das die Überlegenheit der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre versichern wird.» schrieb Schönberg nach der Erfindung der Zwölftontechnik.

Auch sonst agierte er, in dem er die Musikhistorie und ihre Entwicklung bzw. ihre Zukunft ins Visier nahm. 1899 schon, just vor der Jahrhundertwende, komponierte er mit dem Streichsextett Verklärte Nacht ein Stück, das nicht nur die Tristan-Harmonik bewusst erweitert, sondern thematisch auch eine «Tradition» thematisiert: die Übernahme einer Vaterschaft. Die Gurrelieder, dieses 1900 begonnene Grossprojekt, vollendete er erst 1911, als er musikalisch längst woanders stand: So als wolle er die Spätromantik pflichtschuldigst zu Grabe tragen. Mit seiner Harmonielehre formulierte er auch den Grabstein dazu. Mit der 1. Kammersinfonie von 1906 jagte er eine fanfarenhafte Quartenrakete in die Luft, die die Auflösung der Tonalität ankündigte, und kurz darauf fühlte er im Finale des 2. Streichquartetts (1907-8) – da schon mit Stefan George – «luft von anderem planeten». Ein musico-aeronautischer Aufstieg der Menschheit: «ich löse mich in tönen».

Auch an späteren Werken lässt sich dieses Agieren aufzeigen: Das Genie setzt sich im Moment in Szene, ins Zentrum. Und er positioniert auch gleich die Kollegen mit. Anknüpfend an Mahlers Diktum «Meine Zeit wird kommen.», sagte er zum Beispiel über den einstigen Lehrer und Freund Alexander von Zemlinsky: «Zemlinsky kann warten». Diese Haltung hatte Folgen bis in die Neue Musik hinein. Ein erstes «Opfer» war Schönberg selbst, als Pierre Boulez ihn in einem Aufsatz für tot erklärte und Webern inthronisierte. Die Entwicklung der seriellen 50er Jahre kommt einem manchmal wie ein künstlerisches Gerangel darum vor, wer mit welcher Technik den Primeur gelandet hat. Entsprechend gab es zahlreiche Bauernopfer.

Manchmal kommt es einem freilich bloss wie ein insiderisches Geklüngel vor, schon im Schönberg-Kreis: Dieses Sich-Abwenden von der Welt. Es zeigt sich in der Gründung jenes «Vereins für musikalische Privataufführungen» 1921, der die neuentstandenen Werke der Öffentlichkeit entzog und nur einem kleinen Kreis präsentierte. Manchem Betrachter damals mag diese Gruppe wie eine Sekte vorgekommen sein. Eindeutig sektiererische Züge hatte auch der Kreis um Stefan George. Er pflegte eine eigene Orthographie und scharte Jünger um sich. Ein Prophet, ein Guru. So wäre dieses Müssen, dieses Sendungsbewusstsein zu hinterfragen. Aber sollen wir der Rede vom Müssen stets glauben? Manchmal wirkt sie eher wie nachträgliche Rechtfertigung. Künstler müssen manchmal erst mit der Wirkung fertigwerden, die ihre Werke auslösen, und manchmal wissen sie selber kaum genügend, was sie da in die Welt setzen.

Wohltuend ist da eine Bemerkung Schönbergs, die sich im Almanach Der blaue Reiter findet. Er habe die Gedichte bei seinen Liedvertonungen zunächst gar nicht ganz gelesen, sondern sich bloss von der Stimmung der ersten Worte anregen lassen. Man mag auch dem nicht ganz trauen, denn im Buch der hängenden Gärten etwa finden sich durchaus deutliche Wort-Ton-Beziehungen, bedachtsam erarbeitete Strukturen und planmässig gesetzte Höhepunkte. Und doch freut man sich über die da formulierte Spontaneität. Schönberg spricht etwas an, das ihn mindestens so sehr wie die Sendungsnotwendigkeit angetrieben haben muss: die Lust an der Offenheit und der Befreiung, von der ja auch Else Lasker-Schüler spricht. «Von Sternen sind wir eingerahmt / und flüchten aus der Welt.» heisst es bei ihr. Das korreliert mit Georges «ich fühle luft von anderem planeten». Es geht um Fluggelüste, Enthebungen, Freiheiten… Es ist diese Obsession, durch die diese atonalen Werke trotz ihrer manchmal dandyhaften Verschrobenheit ihre Frische bewahrt haben.

So hoffen wir, dass Schönberg zumindest manchmal nicht nur müssen hat müssen, sondern auch schlicht können und wollen hat dürfen ...

Thomas Meyer: Freischaffender Musikessayist, lange tätig für den Tages-Anzeiger Zürich und für Schweizer Radio SRF 2 Kultur sowie für diverse Zeitungen, Fachzeitschriften, Rundfunkanstalten und Konzertveranstalter. Vortrags-, Unterrichts- und Forschungstätigkeit, u.a. an den Musikhochschulen in Luzern und Basel und der Volkshochschule Zürich. Mitglied des Kuratoriums des Musikfestivals Bern. 2016 Atelierstipendium der Stiftung Landis&Gyr in London. Publikationen u.a. zur Neuen Musik, zur Klaviermusik und zur Improvisation.

Rachel Eisenhut