Aufrichtig

 

Foto (Kunsthaus Zürich, Franca Candrian): Alberto Giacometti, Homme qui marche, 1947. Kunsthaus Zürich, Alberto Giacometti-Stiftung, 1965.
© Succession Alberto Giacometti/2022, Pro Litteris, Zurich. Alle Urheberrechte bleiben vorbehalten. Sämtliche Reproduktionen sowie jegliche anderen Nutzungen ohne Genehmigung durch ProLitteris - mit Ausnahme des individuellen und privaten Abrufens der Werke - sind verboten.

 
 

Blogbeitrag zu «Der aufrechte Gang»

 von Benjamin Herzog

Meine Grossmutter, sie war zuletzt noch gute einsfünfzig gross, sagte mir des öfteren: «Setz dich richtig hin!» Genauer benutzte sie das Wort «anständig». Ich machte wohl einen krummen Rücken, wenn ich am Tisch beim Essen sass oder dort etwas zeichnete oder spielte als Bub. Zu einer Zeit jedenfalls, in der wir öfters mit der Familie Ferien machten im Häuschen meiner Grosseltern in den Bergen. Jenseits des Gartenzauns schoben krumm gebückte Bauern ihre ratternden Mähmaschinen vorbei. Krumm auch die Pfeifen, die sie bei dieser Arbeit im Mund hielten. Ich fragte mich, warum es aus den  Pfeifen nicht rauchte. Und warum diese Männer, manche trugen noch so kleine schwarze Zipfelkappen, so krumm gingen. Von der schweren Arbeit? Oder war das Leben in einem kleinen Tal, wo es so überhaupt nichts «Modernes» gab, auf dem Land, einfach ungesund? Auch Frau Gasser vom Käseladen blickte einen immer so von unten an. Ihr Hals, der wie mit der falschen Seite aus dem Kleid drückte, nämlich von hinten, schien sie dazu zu zwingen. Das gab ihr auch diesen Blick aus den Augenwinkeln über die Brille hinweg, wenn sie einem ein Stück Käse abschnitt. Ich mochte sie gern, sie schenkte mir meistens eine kleine Schokolade, wenn ich die Besorgung erledigte. Der Milchgeruch in ihrem Laden im Souterrain eines alten Holzhauses war immer derselbe. Warum? Das musste wohl einfach so sein. Der Geruch war mir jedenfalls vertraut, auch wenn ich nicht sicher bin, ihn gemocht zu haben.

Das «Moderne», das gab es in der Stadt. Wo man Mode trug mit Farben statt in Grau oder Braun. Wo es Dachwohnungen mit Spannteppich gab und Fernsehern. Wo man Ferien hatte und dafür nach Mallorca flog. Und die Menschen waren jung: meine Schulkameraden. Oder deren Eltern, obwohl mir das wahrscheinlich erst heute so erscheint. Es war eine Welt jedenfalls, nach der auch ich mich streckte. Weil sie irgendwie fern war und mir darum vielversprechend schien.

Mit Kunst hatten beide Welten wenig zu tun. Die Bauern mähten ihr Gras. Frau Gasser verkaufte ihren Käse. Und mein Schulfreund flog mit seiner Familie nach Mallorca.

Ich sollte Geige lernen. Und da war es wieder: «Stell dich gerade hin! Finger senkrecht!» Je öfters die Lehrerin das sagte, desto mehr entfernte ich mich innerlich von einer, wie sie es nannte, «stolzen» Haltung an der Geige, und sehnte mich auf ein weiches Sofa mit vielen Kissen. Sich verstecken. Als sie einsehen musste, dass mich ihr Drill nicht wirklich erreichte, bekam ich einen anderen Lehrer. Irgendetwas war krumm an ihm. Er liess mich spielen, beschwingte mich zu etwas, was sich wie Musik anfühlte. Das Ganze bekam eine Dynamik, wo vieles plötzlich wie von alleine ging. Ich liebte ihn dafür. Was mich irritiert hatte, war, dass er schielte.

Aus der Geige wurde nichts. Ich wurde Musikkritiker und genoss es, Verrisse zu schreiben. Gerechtfertigte, wie mir schien. Dann merkte ich, dass man so auch nicht vom Fleck kommt, und begann der Kunst Eigenschaften zuzutrauen, die über das korrekte Ausführen oder die Unterhaltung, das Sentiment vielleicht hinausführten. Eine Botschaft, Haltung, Aufrichtigkeit.

Viktor Ullmann starb in Auschwitz. Nachdem er ein drittes Streichquartett komponiert hatte und Kadenzen zu den Klavierkonzerten von Beethoven. Sofia Gubaidulina weigerte sich, Staatskünstlerin zu werden und schrieb in der atheistischen Sowjetunion Werke mit religiösem Hintergrund. 1992 übersiedelte sie nach Deutschland. René Char kämpfte in der Résistance. Pierre Boulez liess sich von ihm zu einem seiner zentralen Werke inspirieren: «Le Marteau sans maître». 1952 war das. Und Ilse Aichinger, die im Zweiten Weltkrieg mitansah, wie man ihre Grossmutter in einem Viehwagen deportierte, verstand das Schreiben als letzten Ort, der ihrer Existenz noch einen Sinn gab.

Sinn finden, kämpfen, sich nicht verbiegen und sei es im Angesicht des Todes.

Ich selbst habe mich nie «anständig» hingesetzt. Doch liebte mich meine Grossmutter sehr. Und ich sie. Vielleicht schrumpfe ich im Alter bald auch. Und werde in den Bergen Bauern mit krummen Rücken das Gras mähen sehen.

Wer sonst sollte das tun?

Benjamin Herzog, geboren 1972 in Basel, studierte Musik in Basel, Bern und Wien. Arbeitet zurzeit als Musikjournalist unter anderem für SRF.

WälderRachel Eisenhut