«Eng mein Kokon, es locken Farben»

 
 
 

Blogbeitrag zur Collage «Emily oder Die Sirenenstimme der Welt»

von Corinne Holtz

Viele ihrer Strophen liessen sich singen, ihre Metren, Versformen und Gedankenstriche sind nämlich auch vom calvinistischen Kirchenlied und dem europäischen Volkslied geprägt. Sie werden in Neuengland im Haus der Dickinsons glühend gesungen. Ihre Familie zählt zu den Pionieren der Great Puritan Migration, die im 16. Jahrhundert im weiten Tal des Connecticut River in Massachusetts siedeln. Amherst, Emily Dickinsons Geburts- und Lebensort, ist eine grüne Oase, umgeben von waldigem Hügelland, reich an Flora und Fauna. Ein Vorfahre gründet, ein anderer finanziert Amherst College, das höhere Bildung verspricht und dessen Frauenseminare Emily besucht. Anders als ihr Bruder, der am College graduiert und an den Universitäten Yale und Harvard studiert, verlässt sie nach einem Jahr das strenggläubige Mount Holyoke Seminary. Sie hat Heimweh und verweigert sich dem Dogma des First Great Awakening. Emily ist damals noch vorlaut und gilt als «No-Hoper».

Sie schliessen mich in Prosa ein –
wie ehedem als Kind
Als sie mich, dass ich «still»  war –
Wegsperrten in den Spind –

Diese Anfangszeilen aus dem Gedicht Nr. 445 leuchten in den Abgrund rigider Erziehung im Haus des Juristen, der eine gebildete Frau geheiratet hat. Ein flambierter Pudding ist «Höllenfeuer » und Emily geniesst ihn entzückt auf einer ihrer wenigen Fluchten. Sie verlässt Amherst nur ein einziges Mal, um ihren Vater in Washington zu besuchen. Er vertritt dort Massachusetts im Kongress. The Belle of Amherst, wie Emily genannt wird, lebt in einem kleinen Zimmer, spricht mit ihren Besuchern bevorzugt durch die halboffene Türe und kleidet sich in Weiss. Im Stillen legt sie Feuer für eine literarische Revolution und wirkt ebenso folgenreich in die US-amerikanische Moderne wie die Dichter des Transzendentalismus. 

Still! – hätten sie gesehen/ Wie da mein Hirn – sich drehte –/ Genauso könnt ’nen Vogel man/ Einpferchen als Verräter.

 Emily Dickinsons experimentelle Poesie ist Musik. Sie gehört zu den meistvertonten Autorinnen überhaupt und inspiriert stilübergreifend insbesondere US-amerikanische Nachschöpfungen. So etwa Musik der New Yorker Cello Rockband Rasputina, die Filmmusik The Piano von Michael Nyman und Lieder von Ned Rorem, der mit über 400 Kompositionen als «elder statesman of American Art Song» gilt und in Referenzaufnahmen mit Susan Graham und Malcolm Martineau zu fassen ist. 

Emily und Ned hätten sich viel zu erzählen, würde sie den Türspalt ihres Zimmers offen halten. Während sie im Stillen revoltierte, zog es ihn in die Metropole Paris und 1958 wieder nach New York. Dort lebt er bis heute in einem von Kunst und Büchern bewohnten Appartement in der Upper West Side. Ned kommt 1923 in der Bezirkshauptstadt Richmond in Indiana zur Welt. Die Mutter ist Bürgerrechts-Aktivistin, der Vater Volkswirt in der Pharmazie, sie konvertieren zum Quäkertum und begründen in Chicago ihren neuen Lebensmittelpunkt, als Ned ein Jahr alt ist, seine Schwester drei. Beide dürfen Klavier lernen, Konzerte besuchen und Ned wird vom Vater angehalten, das Kompositionsstudium 1948 endlich auch formal an der Juilliard School in New York abzuschliessen. Sohn Ned leidet nach damaligem psychiatrischen Verständnis an einer «neurotischen Störung». Er ist homosexuell und könnte in einem Readjustment Center der Quäkergemeinschaft «geheilt» werden. 1949 zieht es ihn mit einem Stipendium nach Paris und zu Arthur Honegger als Kompositionslehrer. Im Sehnsuchtsland Marokko, dessen Hauptstadt Tanger auch befreundete Künstler wie etwa Paul Bowles und andere Beat-Literaten anzieht, lernt Rorem die traditionelle Musik kennen. In Paris ist es die Avantgarde, auf deren Gedichte er in seinen Liedern zurückgreift, etwa auf Jean Cocteau, Colette und André Gide. Rorems zweite Karriere als Essayist beginnt 1966 mit einem Skandal. Sein Paris Diary ist eine gekonnte Mischung aus Zeitkritik, Sex und Politik und positioniert ihn als Pionier der gay liberation.

Über Emilys Liebesleben wissen wir nichts. Es gab keinen Mann in ihrem Leben. Die Bindung an ihre Schwägerin Susan Huntington Dickinson ist innig, ein Drittel der mehreren hundert Briefe richtet sie an die Neuengland-Aristokratin, die in der Nachbarschaft ein zurückgezogenes Leben als Ehefrau führt. Die Forschung streitet sich insbesondere über sieben ausradierte Bleistiftzeilen in einem Brief der 22jährigen Emily an ihren damals noch unverheirateten Bruder Austin. Dieser wirbt um Susan, die bisher ihr allein gehört. Bergen die ausradierten Zeilen ein Geständnis, das niemals ans Licht kommen darf? Emilys Begehren lodert gesichert in ihren über 1800 Gedichten, ihre Zärtlichkeit gilt auch den Bienen und Faltern und besonders häufig den Vögeln.

Der Goldamsel Gesang
Mag fader Alltag sein –
Oder ein Himmelsding.

Der Pirol ist knallgelb, gut versteckt und dafür an seinem Gesang zu erkennen. Sein charakteristischer Ruf, das flötende didlioh, schallt weit. Wer den Pirol stört oder erregt, hört eine heiseres wiächt oder chräi. Im Flug ruft der Pirol spechtartig scharf und meist zweisilbig jick-jick. Dieses Himmelsgeschöpf fliegt durch Emilys Garten in die Träume und schliesslich ins Schreiben.


Wen jemand liebt – der ist nicht tot
Denn Liebe ist Unsterblichkeit
Nein, mehr noch, sie ist Gott – 

Wer jemand liebt – der ist nicht tot
Weil Liebe aus der Lebenskraft
Das Göttliche erschafft.

Emily und Ned hätten sich viel zu erzählen. Sie revolutioniert die Lyrik und kommt zu früh. Er bleibt dem tonalen Konservatismus treu und attackiert den Dogmatismus eines Pierre Boulez. Sie versteckt sich, um sich als Frau literarisch ungehemmt entfalten zu können. Er bedient im Zeitraum von 70 Jahren alle grossen Gattungen wie Oper, Sinfonie, Chor- und Kammermusik und besagte über 400 Lieder. Sie schreibt ihre rund 1800 Gedichte während weniger Jahre in der Zeit einer persönlichen Krise und unter dem Eindruck des amerikanischen Bürgerkriegs.

Emily und Ned sind wie Feuer und Wasser. Sie erzeugt «Essenz durch Quetschen», wie die kongeniale Übersetzerin Gunhild Kübler die Sprachgewinnung Dickinsons umschrieb. Er entwickelt seine magisch schöne Musik aus dem transatlantischen Erfahrungsschatz und bringt in seinen Liedern US–amerikanische Elemente – etwa die Salonmusik-Tradition Stephen Fosters, aber auch Einflüsse seines Lehrers Aaron Copland – mit den französischen Neoklassizisten und Strawinsky zusammen. Käme das überholte westeuropäische Kriterium des so genannten Materialfortschritts ins Spiel, würde Emily als Vorreiterin gelten und Ned als Reaktionär. Wer zuhört, spürt jedoch: Beider Kunst schwebt und zieht in den Bann. Ihrem jeweiligen Kokon sind sie zielstrebig Richtung Selbstgewinnung entschlüpft.

Corinne Holtz, Dr. phil., Geigerin und Musikwissenschaftlerin. Seit 1989 Redaktorin, heute Autorin bei Radio SRF2 Kultur, publiziert in der NZZ und ist als Essayistin tätig etwa für Opernhaus Zürich, Komische Oper Berlin, Salzburger Festspiele und Autorin der Monografie über die ostdeutsche Regisseurin Ruth Berghaus. Sie ko-kuratierte die interdisziplinäre Kulturplattform 'hexperimente-die bühne im avers' und wirkt als Kommunikatorin (Textarbeit, Moderation, Redetraining). Zur Zeit schreibt sie die Monografie eines führenden Schweizer Komponisten.
www.corinneholtz.ch

Rachel Eisenhut